Gemeinsam gegen Rassismus: MY TURN-Projekte stärken Teilnehmerinnen und Mitarbeitende
Rassismus ist eine der großen gesellschaftlichen Herausforderungen in Deutschland. Mehrere repräsentative Studien zeigen, dass rassistische Einstellungen in der Bevölkerung weit verbreitet sind. So zeigen die Mitte-Studie 2022/2023 der Friedrich-Ebert-Stiftung und die Autoritarismus-Studie der Universität Leipzig 2024, dass rund 20 Prozent der Befragten rassistische und ausländerfeindliche Auffassungen und Positionen vertreten. Die Zahlen verdeutlichen die Herausforderungen, denen sich MY TURN-Projekte in ihrer Arbeit stellen. Zwei MY TURN-Projekte berichten, wie sie mit diesen Herausforderungen umgehen - sowohl in der Unterstützung ihrer Teilnehmerinnen als auch im Schutz ihrer Mitarbeitenden.
Rostock: Schutzmaßnahmen für Mitarbeitende und Teilnehmerinnen
Das Projekt „MY TURN – MY POWER: Für und mit Migrantinnen in der Rostocker Region“ sieht sich immer wieder mit rassistischen Übergriffen konfrontiert – von subtilen Anfeindungen bis hin zu offenen Attacken.
Ein besonders erschütterndes Beispiel: Eine Eingangstür wurde mit Fäkalien beschmiert, nachdem ein Plakat des Projekts aufgehängt worden war. Zudem berichten die Mitarbeitenden, dass Passant*innen Projektaktivitäten durch die Fenster beobachten und dabei oft kritisch oder abwertend reagieren. Als Reaktion darauf organisierte das Projekt einen Tag der offenen Tür, um mit den Anwohner*innen in Dialog zu treten und Vorurteile abzubauen. Workshops in diesen Räumen werden, wenn möglich, dennoch nur noch in Tandems durchgeführt.
Auch bei Exkursionen in der Stadt und zu Unternehmen wurden sowohl Mitarbeiterinnen als auch Teilnehmerinnen beleidigt. Während eines Besuchs in einem Hotel als potenziellem Arbeitsort kam es zu rassistischen Bemerkungen durch Gäste.
Sicherheitskonzept und Deeskalationstraining: Zum Schutz der Mitarbeiter*innen entwickelte das Projekt ein Sicherheitskonzept. Dazu gehören ein Leitfaden zum Umgang mit Aggression und Gewalt sowie Deeskalationstrainings. Im Deeskalationstraining wird Folgendes behandelt:
- Wie können Konfliktsituationen verhindert werden? (Primäre Prävention)
Hintergründe und Handlungsmöglichkeiten bezogen auf die Teilnehmerinnen, die Mitarbeitenden und das Umfeld - Wie können sich Mitarbeitende während einer Konfliktsituation verhalten? (Sekundäre Prävention)
Gefahreneinschätzung, verbale und körperliche Handlungsmöglichkeiten - Was ist nach Konfliktsituationen zu tun? (Tertiäre Prävention)
Maßnahmen der Nachbereitung für die Teilnehmerinnen, die Mitarbeitenden und die Institution
Darüber hinaus wird in Teammeetings Erfahrungen Raum gegeben, verknüpft mit kollegialer Beratung zu Strategien im Umgang mit Erlebtem. Zudem wird Supervision für das Team angeboten. Antidiskriminierungs- und Empowermenttrainings für die Mitarbeitenden sind in Planung.
Erfahrungen und Empowerment der Teilnehmerinnen: Die Teilnehmerinnen des Rostocker Projektes berichten häufig von Alltagsrassismus, wie Beleidigungen in Arztpraxen, Diskriminierung bei der Einschulung ihrer Kinder oder abwertendem Verhalten, etwa wenn Menschen in öffentlichen Verkehrsmitteln aufstehen, um nicht neben ihnen zu sitzen. Eine Teilnehmerin erlebte sogar einen Angriff mit einer Glasflasche. Im Berufsleben werden Frauen mit Kopftuch häufig abgelehnt, oft mit der Begründung, dass Kund*innen dies nicht akzeptieren würden.
Solche Erfahrungen werden in der Projektarbeit sensibel in der Ressourcen- und Bedarfsanalyse aufgegriffen und dokumentiert. Das Projekt reagiert darauf mit Empowerment-Angeboten wie dem Kurs „Empower You“, in dem die Frauen lernen, Diskriminierung zu erkennen, sich dagegen zu wehren und was ihre Rechte sind. Diese Inhalte werden auch in Bewerbungstrainings, Berufsorientierungskursen und den „Lernnuggets“ des Projekts vermittelt. Ziel ist es, den Frauen praktische Strategien an die Hand zu geben, sie zu stärken und sie zu ermutigen, rassistische Vorfälle anzuzeigen.
Netzwerke und Zusammenarbeit: Die Zusammenarbeit mit Organisationen wie dem Flüchtlingsrat Mecklenburg-Vorpommern, der Fachstelle Mehrsprachigkeit M-V, dem Landesfrauenrat und Antidiskriminierungsstellen ist zentraler Bestandteil der Projektarbeit. Darüber hinaus wird das Thema in der Zusammenarbeit mit der Arbeitsverwaltung aufgegriffen. Hier wurden vom Projekt Workshops für Führungskräfte zur Sensibilisierung für Vielfalt speziell im Bewerbungsprozess durchgeführt.
Thüringen: Stärkung der Teilnehmerinnen durch Beratung und Empowerment
Auch das Projekt „Gemeinsam stark – Migrantinnen starten durch“ in Thüringen unterstützt seine Teilnehmerinnen im Umgang mit Rassismus und Diskriminierung und gibt ihnen Handlungssicherheit. Immer wieder berichten die Frauen von Anfeindungen wie Beleidigungen, Herabwürdigungen oder ungerechtfertigten Absagen bei Bewerbungen. Ein Beispiel verdeutlicht die alltägliche Diskriminierung: Eine Teilnehmerin wurde bei einer persönlichen Bewerbung in einem Restaurant mit den Worten „Wir haben keine Arbeit für Ausländer“ abgewiesen, obwohl das Unternehmen öffentlich mit Vielfalt wirbt. Ähnliche Erfahrungen zeigt ein weiteres Beispiel, das auch aus anderen MY TURN-Projekten bekannt ist: Eine dauerhaft ausgeschriebene Stelle als Verkäuferin, auf die sich viele qualifizierte Migrantinnen mit Unterstützung des Projekts beworben hatten, führte zu keinem einzigen Vorstellungsgespräch. Darüber hinaus äußern die Teilnehmerinnen in der Beratung häufig Ängste vor der politischen Entwicklung in Thüringen und Deutschland. Sie sorgen sich um die Sicherheit ihrer Familien und befürchten Übergriffe oder Stigmatisierung, insbesondere für ihre Kinder.
Empowerment Workshops: Das Projekt bietet Formate an, in denen Frauen lernen, mit Rassismuserfahrungen umzugehen und Diskriminierungsmechanismen zu verstehen. Wenn in der Beratung das Thema aufkommt, wird dem stets Raum gegeben. Es werden regelmäßig Gruppenangebote in Form von Empowerment-Workshops zum Umgang mit Alltagsrassismus und Diskriminierung angeboten. Diese Formate helfen den Teilnehmerinnen, ihre Erfahrungen einzuordnen, strukturelle Hintergründe zu erkennen und mögliche Handlungsschritte zu entwickeln. Den Erfahrungen und Ängsten wird Raum gegeben durch aktives Nachfragen bei Schilderungen, konkretem Benennen, was passiert ist und Einordnung (z.B. „das war diskriminierend/rassistisch“). Teilnehmerinnen schätzen die Angebote, da sie ihnen zeigen, dass sie mit ihren Erfahrungen nicht allein sind, sie Unterstützung und Handlungssicherheit in akuten Situationen erhalten und ihnen weitere Anlaufstellen vermittelt werden. Gleichzeitig können die Ängste jedoch durch den präsenten Alltagsrassismus meist nicht vollständig genommen werden.
Sichtbare Zeichen und Vernetzung: Um den Teilnehmerinnen Sicherheit zu geben, wurden in allen Beratungs- und Schulungsräumen Aufkleber mit der Aufschrift „EVERYONE is welcome here“ angebracht. Zudem liegen mehrsprachige Flyer für Beratungsstellen für Betroffene von rechter, antisemitischer und rassistischer Gewalt aus. Außerdem arbeitet das Projekt eng mit lokalen Partnern wie „EmpowerMensch“, „Raus aufs Land“, Anlaufstellen für Betroffene von rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (ezra) zusammen und ist Gründungsmitglied im Thüringer Antidiskriminierungsnetzwerk.
Stärkung des Kollegiums: Das Thüringer Projekt arbeitet auch gezielt daran, das Team zu stärken und für einen respektvollen und professionellen Umgang mit herausfordernden Situationen zu sorgen. Zwei Mitarbeiterinnen sind als Multiplikatorinnen für den Umgang mit Alltagsrassismus in Ostdeutschland ausgebildet. Für Kolleg*innen, die selbst von Rassismus betroffen sind, werden bei Bedarf Empowerment-Räume geschaffen, wie zuletzt nach den Landtagswahlen in Thüringen. Zudem gibt es beim Träger eine Vertrauensperson für Themen wie Rassismus und Diskriminierung, die Mitarbeitende bei Vorfällen unterstützt und beratend zur Seite steht.
Herausforderungen und Grenzen: Eine zentrale Herausforderung bleibt die strukturelle Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt. Trotz gezielter Unterstützung werden die MY TURN-Teilnehmerinnen oft nicht einmal zu Bewerbungsgesprächen eingeladen, was zu Resignation führt. „Stärkung auf individueller Ebene funktioniert gut, aber die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ändern sich dadurch nicht“, so das Projektteam. Die Sensibilisierung von Arbeitgeber*innen gelingt ihrer Erfahrung nach nur, wenn auf Unternehmensseite bereits ein grundsätzliches Interesse am Thema besteht.
Verantwortung der Arbeitgeber*innen
Die MY TURN-Projekte klären auf, geben Handlungssicherheit und schaffen Räume für Empowerment und Vernetzung. Gleichzeitig betonen die Verantwortlichen, dass gerade auch Arbeitgeber*innen eine entscheidende Rolle spielen. „Sie müssen sich bewusst machen, dass gesellschaftspolitische Herausforderungen, wie Rassismus und Diskriminierung, auch innerhalb ihrer Belegschaften auftreten können. Der Umgang mit ausländischen Kolleginnen ist aktiv zu thematisieren. Es braucht dringend Diskriminierungssensibilität, um Herausforderungen frühzeitig zu erkennen, und Diversitätskompetenz, um Arbeitsprozesse inklusiver zu gestalten.“ Der Nachholbedarf in diesem Bereich ist erheblich, bietet jedoch auch Chancen, Unternehmen zukunftsfähig und divers aufzustellen.
Fazit: Schutz und Empowerment als doppelte Verantwortung
Rassismus und Diskriminierung nehmen den Frauen Chancen, schaffen unsichtbare Barrieren und verhindern ihre Teilhabe. Viele Betroffene ziehen sich zurück, was nicht nur bei ihnen, sondern auch bei den Beratenden zu Unsicherheit und Hilflosigkeit führen kann. Beide MY TURN-Projekte zeigen eindrucksvoll, wie wichtig es ist, sowohl die Teilnehmerinnen als auch das Personal vor Rassismus und Diskriminierung zu schützen und sie zu stärken.
Die Erkenntnisse aus der Arbeit beider Projekte machen aber auch deutlich: Solange Rassismus tief in der Bevölkerung verankert ist, ist Antidiskriminierungsarbeit eine vordringliche und langfristige Aufgabe vieler verschiedener gesellschaftlicher Akteure. Die MY TURN-Projekte leisten hierzu bereits einen wertvollen Beitrag, der weit über die individuelle Unterstützung der Teilnehmerinnen hinausgeht.
Weitere Informationen und die Kontaktdaten der Verbundprojekte sind zu finden auf der MY TURN-Programmwebsite:
MY TURN – MY POWER - Für und mit Migrantinnen in der Rostocker Region
Vorhabenträger: migra e. V.
Gemeinsam stark – Migrantinnen starten durch
Vorhabenträger: Institut für Berufsbildung und Sozialmanagement gGmbH